Lyrik
Spanisch mal 4 durch 6
Und ich weiß immer noch nicht, wie der Baum heißt, unter dem wir uns in diesem Sommer 2022 eine Woche lang täglich trafen – nach und vor der Gartenarbeit – oder wie man das nennt, wenn sechs Menschen im Garten sitzen und über Wörtern brüten. Gedichte aus dem Spanischen haben wir übersetzt – nein, falsch! Denn das lernten wir gleich: Dass Spanisch nämlich nicht nur eine Sprache ist, sondern gleich mehrere. Unter diesem Baum jedenfalls haben wir mit den Verfasserinnen der kastillischen, katalanischen, galicischen und baskischen Texte gesprochen, 4 Dichterinnen und ein Dichter mit so unterschiedlichen Ansätzen, von denen mir hängen blieb – und das ist jetzt eine völllig subjektive Beschreibung: Rosa Berbels junger Feminismus, Yolanda Castaños Auseinandersetzungen mit ihrem eigenwilligen Haus und ebensolchem Leben, Maria Josep Escrivás traumartige Erkundungen der spanischen Erde und Küste, Castillos Suárez herbe (Anti?-) Liebesgedichte und Mario Martín Gijóns sprachspielerische Aneignungen. Und da wir Übersetzenden (Alexandru Bulucz, Mara Genschel, Agnieszka Lessmann, Katja Lange-Müller, Àxel Sanjosé und Tom Schulz) sechs ebenfalls sehr unterschiedliche Handschriften mitbrachten, ist aus dieser lebhaften Diskussion unter dem Edenkobener Künstlerhausbaum ein Band mit anregend divergenten Übersetzungen entstanden, wie es das Konzept der „Poesie der Nachbarn“-Reihe so spannungsvoll ermöglicht. Denn es gibt zu vielen der Originaltexte gleich mehrere deutschsprachige Nachdichtungen. Hans Thill, unser großherziger Gastgeber und unnachsichtiger Herausgeber, hat den Band unter dem Titel „Biologie des Gedichts“ im Wunderhorn-Verlag veröffentlicht.