Verborgene Versionen

Was das Projekt „Poesie der Nachbarn“ so besonders macht, ist seine Offenheit. Mehrere deutschsprachige Dichter und Dichterinnen überführen die Texte ihrer anderssprachigen Kollegen und Kolleginnen in die eigene Sprache: übersetzen, nachdichten, sich inspirieren lassen – alles ist erlaubt. So entstehen Jahr um Jahr und Land und um Land Gedichtsammlungen von einzigartiger Vielstimmigkeit. Im letzten Jahr, als Spanien zu Gast war, hat mich ein Text von Mario Martin Gijón gleich zu zwei deutschsprachigen Versionen angeregt, denn wie viele seiner Texte ist es in seinem Spiel mit Bedeutungen und Formen – eigentlich – nicht übersetzbar.

Da wurden dann aus den drei Zeilen seiner „verborgenen Grammatik“  in meiner Übertragung drei Verse. Und damit nicht genug, es entstand auch ein neues, von ihnen inspiriertes Liebesgedicht.

Verborgene Grammatik 2

dort an der Tür
die Ahnung noch
deiner Gestalt und

(deine Art die Brille
zurechtzurücken)
Gesten

Grapheme einer noch
zu erfindenden
Sprache und

(wie das Licht spielte
in deinem Haar)
Schrift

ich entziffere sie
als Orakel deiner Gegenwart und

(Aroma von Beeren
und Rauch)
pures Glück

(Agnieszka Lessmann)

Biologie des Gedichts

Im Edenkobener Künstlerhaus kamen wir  zusammen: fünf spanische und sechs deutsche Dichterinnen und Dichter. Es war eine intensive Woche voller Gespräche und Begegnungen diesseits und jenseits der Wörter und Sprachgrenzen –  dieser Band spiegelt sie wieder in einer Spannbreite unterschiedlicher Schreibweisen und Perspektiven, die sich in den deutschsprachigen Nachdichtungen, Annäherungen und Echos wiederum auf neue Weise entfalten.